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Chained For Life - Deutschlandpremiere mit Linus de Paoli

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Leider gibt es keine Kinos.

Mabel (Jess Weixler) gibt Rosenthal (Adam Pearson) Nachhilfe in Filmschauspiel. Das Gesicht der normschönen Darstellerin wechselt sich in Close-Ups mit dem ihres an Neurofibromatose erkrankten Laiendarstellers ab. Seine Reaktionen sind in dem von Hauttumoren gezeichneten Gesicht schwer lesbar, ihre Mimik hingegen zeigt ziemlich exakt die Gefühle, die Rosenthal ihr in Stichworten vorgibt: Mabel spielt Angst, Freude und Trauer mit Bravour. Nur die Empathie sieht aus Rosenthals Perspektive eher nach Mitleid aus. Es ist ein kleiner, leiser Witz. Ein Witz, der den gesamten Film in sich trägt, so trocken und bescheiden Adam Pearson ihn vorträgt.

Denn Mabel kann, so talentiert sie darin sein mag, sich zu verstellen, so oft sie es auch vor dem Spiegel geprobt haben mag, mit ihrem entstellten Gegenüber kein entspanntes Gespräch führen.

Ein Film-im-Film-Projekt gerät zur Exploitation

Mabel und Rosenthal sind Teil eines Filmprojekts. Sie spielt die Frau eines wahnsinnigen Doktors, der an deformierten Menschen experimentiert, um sie angeblich zu „heilen“. Ihre Figur verliebt sich bald in einen der an Tod Brownings Film erinnernden „Freaks“. Ihr als Schauspielerin aber fällt das sichtbar schwer.

Der „Herr Director“ genannte Regisseur des Films (Charlie Korsmo) hat das Pathos und den breiten Akzent von Werner Herzog, das dazugehörige Talent aber bringt er nicht mit. Nicht ekstatische, sondern rhapsodische Wahrheit soll es bei ihm geben. Die scheitert aber bereits in einer Szene, die eigentlich ein schlichter Schritt ins Licht sein sollte, aber nach einigen fehlgeschlagenen Takes in einen strapaziösen Monolog des Regisseurs über Orson Welles’ Auftritt in „The Muppet Movie“ mündet. Überhaupt herrscht wenig Zweifel darüber, dass das, was am Filmset stattfindet, klassische Exploitation ist und der Film, der da im Entstehen begriffen ist, wohl eher keine „rhapsodische“ Wahrheit über wahre Schönheit zu formulieren vermag. Der Rest der Crew macht sich kaum besser als der Regisseur, der sich als Seelenverwandten der „Freaks“ versteht – er habe als Kind Asthma gehabt. Für die Filmschaffenden sind die entstellten Laiendarsteller kaum mehr als Freaks, an denen man nur ihres bizarren Äußeren wegen – das man in der einen oder anderen Fotosession festhält – Interesse hat.

Die Freaks wiederum bilden die für sie gewohnte Solidargemeinschaft, die ebenfalls die eine oder andere Reibung und bald auch ein eigenes Filmprojekt hervorbringt. „God’s Mistakes“ ist der zweite Film-im-Film, der sich durchaus unerwartet zwischen die bereits schwer unterscheidbaren Erzählebenen von „Chained for Life“ schaltet.

Welche Rolle spielt die Schönheit?

Das ist freilich so gewollt: „Chained for Life“ (2018), den Regisseur Aaron Schimberg vor seinem thematisch verwandten Film „A Different Man“ (2024) inszenierte, kreist mit nahezu jeder Szene um die eine oder andere Facette des Schönheits-Diskurses und kann dazu gar nicht genug Perspektiven miteinbringen. Das dem Film vorangestellte Pauline-Kael-Zitat („Die Schönheit ist ein großer Vorteil, den Schauspieler:innen haben, weil sie ihnen größere Ausdrucksmöglichkeiten gibt“) wird zerpflückt, aus der Gegenperspektive untersucht, bestätigt und wieder zerpflückt. Filmemacher Aaron Schimberg hat dabei kein Interesse, seine eigene Wahrheit zu etablieren. Oder anders gesagt: Sein Film gesteht jederzeit ein, es eben nicht besser zu wissen und sich selbst nicht ganz vom Vorwurf der Exploitation freimachen zu können.

Die Sache ist eben kompliziert: Bei Schönheit, Normen, Fremd- und Selbstwahrnehmung existieren die verschiedensten Wahrheiten auf paradoxe Art und Weise nebeneinander. In „Chained for Life“ ist das oft schmerzhaft und mindestens genauso oft ziemlich komisch. Der Film zeigt, wie unangenehm es ist, angestarrt zu werden, wie schmerzhaft es aber auch ist, ignoriert zu werden; wie Sehen und Zeigen ständig (und oft auf absurde Weise) diskursiv besetzt sind. Die Unsicherheit und Ungewissheit zwischen normschön und deformiert, zwischen aufgeschlossen und verschlossen, zwischen starren und sehen, zwischen erleben und projizieren entfaltet Schimberg in lange Dialogszenen, aber auch in der DNA des Films selbst. „Chained for Life“ ist als Film über einen Film, in dem noch andere Filme stattfinden, gewollt als Mogelpackung inszeniert, die nie direkt preisgibt, auf welcher narrativen Ebene das Gezeigte gerade stattfindet, und dem Publikum damit nie Gewissheit gibt, ob sich hier Menschen oder Figuren begegnen und ob das, was dort passiert, nun Inszenierung oder Tatsache ist.

Die Anziehung zwischen den Hauptfiguren ist das Herzstück

Was zunächst wie eine sehr intime Begegnung zwischen Mabel und Rosenthal aussieht, entpuppt sich, als der Bildausschnitt sich plötzlich weitet, als Filmszene des im Film gedrehten Films, der nahezu die gesamte Crew beiwohnt. Ist die Zärtlichkeit deswegen nicht echt? Treffen sich die „Schöne“ und das „Biest“ oder vielleicht doch wirklich die beiden Darsteller:innen? Und wie sähe es aus, wenn plötzlich Mabel die Entstellte wäre und Rosenthal der normschöne Hauptdarsteller? Die dazugehörige Szene liefert der Film bald in einen surrealem Twist nach. Die ständige Anziehung zwischen Mabel und Rosenthal ist das Herzstück von „Chained for Life“ und als solches von einem ständigen Knistern, aber auch von ständiger Unsicherheit geprägt.

Auf allen Erzählebenen kommen sich beide näher. Nie so nah, dass man ihren Beziehungsstatus in einem Wort zusammenfassen könnte und nie auf den Pfaden der klassischen Erzählkino-Dramaturgie, die sukzessive Vorurteile, falsche Wahrnehmung und Verunsicherung auflöst, um Platz für die Liebe zu machen. „Chained for Life“ findet sie trotzdem: Gerade weil Körper- und Schönheitsdiskurse nicht ins Naive aufgelöst, sondern verkompliziert werden, schärft Schimberg zärtlich und fast klammheimlich den Blick für diese seltsamen Wesen, die hinter Hauttumoren, Frauenbärten, Brandnarben und perfekter Gesichtssymmetrie versteckt sind – und die seltsame Beziehung, die sie miteinander führen.

Veröffentlicht auf filmdienst.deChained For Life - Deutschlandpremiere mit Linus de PaoliVon: Karsten Munt (14.10.2025)
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