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Filmkritik
Die zwölfjährige Dalia vermisst ihren Vater Adolfo, der verstorben ist, bevor er seinen Plan, seinen ersten umfangreichen Roman zu schreiben, vollenden konnte. Schon als Dalia fünf Jahre alt war, hatte er ihr zugesagt, dass sie eine Figur beisteuern darf. Inspiriert von ihrem liebsten Stoffkuscheltier entschied sich das Mädchen für eine Ziege. Die Liebe zu fantastischen Geschichten teilt Dalia mit ihrem Vater. Sie zweifelt aber, dass sie auch sein Talent geerbt hat. Dagegen ist ihre Mutter, die die Werke ihres Mannes lektoriert hat, überzeugt, dass das Mädchen genug Kreativität hat, eigene Bücher zu schreiben.
Als Zwölfjährige findet Dalia in einem sonst verschlossenen Zimmer ein rotes Buch, das sich als unvollendetes Manuskript ihres Vaters erweist. Nur mit Mühe gelingt es ihr, den Verschluss zu öffnen. Als sie zu lesen beginnt, wird Dalia sofort in eine fantastische Welt hineingezogen. Einige Figuren entwickeln ein Eigenleben und wollen die Handlung selbst kontrollieren. Besonderen Ehrgeiz legt dabei die Wölfin Loba an den Tag, die von drei Harpyien unterstützt wird.
Das fehlende Kapitel selbst schreiben
Im Gegenzug steht Dalia die streitbare, eigensinnige Ziege Ziegi als Ratgeberin zur Seite. Auf der Reise durch die Buchwelt macht das Mädchen überraschende Entdeckungen und begegnet kuriosen Fabelwesen. Schließlich wird klar, dass Dalia binnen zwölf Stunden das fehlende letzte Kapitel des roten Buchs selbst schreiben muss, sonst bleibt sie für immer in der Geschichte gefangen.
Der argentinische Regisseur David Bisbano, der auch das Drehbuch geschrieben hat, variiert ein effektvolles dramaturgisches Motiv: Ein Protagonist wird auf wundersame Weise in eine literarische Fantasiewelt hineingezogen. Wolfgang Petersen hatte sich des Themas schon in seiner Michael-ende-Adaption „Die unendliche Geschichte“ (1983) bedient. 2023 tat dies abermals der französisch-belgische Animationsfilm „Sirocco und das Königreich der Winde“ von Benoît Chieux.
In allen drei Fällen treten die jungen Protagonisten eine Heldenreise an, auf der sie viele Hindernisse überwinden müssen, um schließlich zu sich selbst zu finden. Bisbano verknüpft das Motiv am stärksten mit dem Medium der Literatur selbst. Dalia ist eine verunsicherte Einzelgängerin; sie weiß, dass sie viele Ideen für starke Geschichten im Kopf hat, findet aber bisher nicht die richtigen Worte dafür. Oder aber diese Worte können sich nach ihrer Ansicht nicht mit der Sprachkunst ihres Vaters messen. Mit dem Ergebnis, dass sie gar nichts zu Papier bringt. Bis der Übergang in das rote Buch ihres Vaters sie zwingt und sie so zu ihrer Bestimmung findet.
Design mit Einfallsreichtum
Bisbano betreibt einen enormen Aufwand, um die surrealen Szenerien der Buchwelt zu visualisieren, in der riesige Hochhäuser mit düsteren Fassaden tiefe Straßenschluchten bilden und seltsame Gefährte im Retro-Look auf Gleisen gleiten oder durch die Lüfte ziehen. Vor allem beim Design der grotesk in die Länge gezogenen Figuren wie Ziegi oder Loba punktet die Animation mit Einfallsreichtum. Der eigenwillige Look beruht auf einer eklektizistisch anmutenden, hybriden Kombination diverser Animationstechniken, die von handgefertigten Kulissen und klassischer Stop-Motion-Technik über 2D- und 3D-Animation bis zu computergenerierten Figuren reichen. Dabei kam in Einzelfällen auch das 3D-Tool Unreal Engine zur Anwendung, das auch für Video Games genutzt wird. Die Übergänge zwischen diesen Techniken werden von den Machern weitgehend gekonnt verschleiert.
So einfallsreich die Fantasiewelt des roten Buches damit gestaltet ist, kommt die Geschichte selbst aber nicht ohne Redundanzen aus. So lamentiert Dalia immer wieder – und damit zu oft – über ihre Angst vor leeren Seiten und kokettiert damit, dass sie im sprachlichen Ausdruck angeblich nicht an ihren bewunderten Vater heranreicht.
Kämpfe in immer neuen Runden
Zudem ziehen sich die Kämpfe zwischen Dalia und ihrem Helfer Ziegi gegen die Wölfin Loba und ihre drei Harpyien sowie ein mächtiges Monster in immer neuen Runden reichlich in die Länge, ohne dass in narrativer Hinsicht große Fortschritte erzielt werden. Nachdem einige ehrgeizige Figuren des Romans mit Dalia und Ziegi lange leidenschaftlich um die Vorherrschaft gerungen haben, lösen sich die Konflikte im Vergleich dazu am Ende überraschend schnell und geräuschlos auf. Es ist also vor allem an der visuellen Gestaltung, so viel Charme zu entfalten, dass die Ermutigung, bei der Suche nach dem eigenen Weg nicht zu schnell aufzugeben, sich einprägt.
