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Filmkritik
Vor drei Jahren haben wir aus Anlaß der Emser Retrospektive den vielfach verkannten Moralisten Luis Bunuel als Menschen und Regieautor zu würdigen versucht ( (fd 22)/1965). Damals konnten wir uns auf 19 seiner 25 Filme beziehen, doch "Der Würgeengel", nach "Nazarin", "Das junge Mädchen" und "Viridiana" in Mexiko geschaffen, blieb uns noch vorenthalten. Nach diesem Werk hat der inzwischen 68jährige Spanier drei Filme gemacht, von denen "Tagebuch einer Kammerzofe" und "Belle de Jour" im Kino einem größeren Publikum bekannt geworden sind. "Der Würgeengel", 1966 nur kurz im Verleih, erscheint als zusammenfassende Anthologie des ganzen bunuelschen Lebenswerks wie auch des gesamten Surrealismus im Film. Es ist kein Film, der als Musterbeispiel angenehm konsumierbarer Bildästhetik gefallen würde, und noch weniger einer, der gefallen will. Aber gerade in der ungewöhnlich "befremdenden" Kompaktheit liegt seine überragende Größe, die konzentrierte Kraft der vom Zuschauer Ergänzung fordernden Aussagen. Die "zwiespältige" Allegorie richtet ihre mehrfach deutbare, sittlich verpflichtete Botschaft gegen Grundübel heuchlerischer "Ehrbarkeit" und täuschender Selbstgefälligkeit. Bunuel durchsticht die Symptome von Krankheiten, wo sich Sittenkonflikte zu "Zwangshandlungen", Perversion und Hysterie verwandeln. "Grobheit, Gewalt und Schmutz werden zum ständigen Begleiter", sagt einer der "Helden", die bei Bunuel bezeichnenderweise niemals zu Helden im historischkonventionellen Sinne werden. Bunuel verdichtet die sich wiederholende Geschichte der Menschen mit einer irreal verschlüsselten, doch offenen und nicht abgeschlossenen "Traumgeschichte" zu einem einzigen Vexierbild. Sein Gleichnis zielt gewiß nicht auf die Erfahrung einer eng begrenzten Bourgeoisie.
Etwa zwanzig distinguierte Leute mit besten Garderoben und Manieren, kehren nach einer Opernaufführung bei einer Herrschaft in schloßartiger Villa zum Essen ein. Gleichzeitig verlassen die Diener, außer dem Butler, das feudale Haus (- erst nach Tagen wird einer Dame bewußt: "wie Ratten das sinkende Schiff"). Aber die Gäste scheinen nichts zu befürchten, ihnen gefällt die Gesellschaft, sie finden, pflichtvergessen, kein Ende, trotz Müdigkeit und Schwüle. Einige legen sich gegen fünf Uhr früh im Eßzimmer schlafen. Für weitere Tage und Nächte werden Eß- und Musiksalon zum Kerker, schließlich zum Tollhaus und Stall, mit stinkenden, sich bedrängenden Insassen: denn die (ein-) geschlossene Gesellschaft vermag infolge unerklärbaren, inneren Zwanges den Raum nicht zu verlassen; ohne Wasser und Nahrungsmittel, ohne Abort und Medikamente, kann sie Krankheit und Panik, Gewalt und Tod nicht verhindern. Kurze Ausschnitte von traumwirklich anmutenden Szenen bezeichnen die Lage der einzelnen, die Isolation und Unbesonnenheit, Feigheit und Ichsucht. Eine Krebskranke spürt ihre Verlassenheit; in dem Wahn, allein im Raum zu sein, von der Hand eines Toten verfolgt, ergreift sie halbbewußt ein Messer. Der Todkranken raubt ein junges Paar das Morphium. Einer wirft die Pillen eines Magenkranken, der noch am Opernabend zu viel gegessen hatte, hinaus. Ein "Liebespaar", Idyll der Party, das sich am ersten Abend seine "Ungebundenheit" bekundete und dabei zugleich seinen inneren "Zwang", den schuldhaften Zwang eingeübter Untreue verriet ("Ich bin ledig, bis Samstag, wie Du"), hat sich inzwischen umgebracht, unbemerkt. Leichtfertiger Optimismus und blinder Pessimismus überschlagen einander; jemand meint, ein solcher Zustand könne nicht lange anhalten, aber er tut nichts; ein Sterbender gibt sich "zufrieden", da er die "Ausrottung" nicht mehr erleben werde. Wille und Sitte scheinen völlig gelähmt. Ein Freimaurer ruft vergeblich nach Hilfe. Auch von draußen vermag niemand, auch bewaffnete Polizei nicht, zu helfen. Nur ein Bär und einige Schafe verlaufen sich in den Gesellschaftsräumen und werden geschlachtet. Mit dem Holz der Möbel und der Musikinstrumente brät man sie. Der Diener ißt Papier (was er "schon in der Schule geübt" habe). Viele folgen nun der fixen Idee, Nobile, dem Gastgeber, für ihre Lage die Schuld zu geben und ihn umzubringen. Da erklärt eine bisher unauffällige junge Frau - Laetitia - ihren Gedanken, alle Gäste sollten sich ihres Standorts und Tuns besinnen, bevor sie den Zwang der Einkerkerung verspürten. Der allen gemeinsame Zeitpunkt sind die Augenblicke nach Beendigung der Klaviersonate, als die Freude und Bewunderung des Spiels übertriebenen Komplimenten und unechtem Verhalten wich. Alle folgen Laetitia nun ohne Schwierigkeiten. Sie gehen zum Dankgottesdienst in die Kathedrale. Nach dem Te Deum warten die Priester, bis die Gläubigen die Kirche verlassen haben, doch nun vermag niemand die Schwelle des Portals zu übertreten. Draußen treibt die Polizei die herandrängende Menge auseinander. Eine größere Herde Schafe nähert sich ungehindert dem Kirchenportal: Schlußbild.
Die originale Fassung des Films enthält (nach "Téléciné (fd 112)/1963) im Vorspann: "Wenn dieser Film Ihnen rätselhaft oder anstößig erscheint, so deshalb, weil auch das Leben es ist. Wie das Leben, so ist der Film voller Wiederholungen und vielfach interpretierbar. Der Autor erklärt, daß er keine Symbole geben wollte, zumindest nicht bewußt. Die beste Deutung von El angel exterminador ist vielleicht, daß es von der Vernunft her keine Deutung gibt." Alle Enttäuschten werden sich darin einig sein, Bunuel zu mißtrauen, weil es sein leidenschaftlicher Beruf ist, dort mit Dynamit umzugehen, wo sich Berge von Dummheit und Dekadenz zu Kulissen einer scheinbar geordneten Landschaft bilden. Bunuels Zustands- und Moralkritik verwendet nur mit Widerspruch archaische Gesetze der Logik, nur mit Vorbehalt gelten Kausallehren der Psycho-Logik. Wissenschaftsgläubigkeit ist ebenso mißkreditiert wie eingeübte Sitten-, Autoritäts- und Leichtgläubigkeit, die sich aus Konvention und Aberglauben nähren. Erfahrungen aus bloßer Tradition, Folgerungen aus dem Wahrnehmen des ersten Anscheins werden in Frage gestellt. Zwei Begebenheiten (der Eintritt ins dienerlose Haus und der Trinkspruch auf Silvia) wiederholen sich mit leichten Abänderungen, auch in der Perspektive, als Beispiel dafür, wie sich Vorkommnisse im "Leben der Gesellschaft" wiederholen; sie bezeichnen zugleich aber auch die Tatsache, daß jedes Erlebnis, von anderen Menschen und verschiedenen Standpunkten gesehen, ein anderes wird. Folglich geht Bunuel nicht von einer "allein-richtigen" Beobachtung und Beschreibung aus, nicht von einer unantastbaren Wirklichkeit und einer als "unbedingt richtig" erkannten Wahrheit aus, sondern von mehreren Realitäten ("Realitätsebenen" wie Traum und Wachzustand), aus denen man - in Teilen - die Wahrheit erkennen und erfahren kann. Hieraus erklärt sich auch die Zurückhaltung beim (meistens offen gelassenen) Darstellen der möglichen Ursachen, Absichten und Unbewußtheiten menschlichen Verhaltens. Aggressiver erscheint die entlarvende Kritik der sittlichen Fragestellung. Von unangebrachter Höflichkeit und falscher Verbindlichkeit reicht die Skala der Darstellung über verbogene und verkümmerte Formen "maßgebenden" Verhaltens bis zur "anstößigen" Fehlanzeige sittlichen Bewußtseins. Hier zeigen sich in noch mehr grotesker als angemessen-sarkastischer Weise die freigelegten Symptome des Fehlverhaltens.
Nur wenige Momentaufnahmen seien erwähnt, die ein Kurzprotokoll der Handlungsstruktur kaum berichten kann: Wenn der erste Gast im Eßsalon sich hinlegt, bedeutet der Gastgeber seiner betroffenen Frau: "Wir sollten uns auch etwas ausziehen, damit seine Unkorrektheit nicht so auffällt." - Eine Dame nach der ersten Übernächtigung: "Sehe ich schrecklich aus?" "Nein, interessanter denn je." - "Was sagen Sie zu dieser Situation? Unwahrscheinlich oder normal?" Ein Dritter wendet rügend ein: "Solche Fragen stellt man sich nicht!" Das zunehmend "alltäglich" gewordene Verhalten erschreckt erst bei gegenseitiger Bedrohung und "Zwangshaltung", das eigentlich "Unwahrscheinliche", "Außerordentliche" einer allmählich beständigen Ausnahme-Situation wird als "normal" angenommen. Indem der Film unkontrolliertes Entstehen und Annehmen von deswegen sittlich fragwürdigem Verhalten demonstriert, läßt er in umfassender Konsequenz den Schluß ziehen auf die Bedrohung der natürlichen und übernatürlichen Existenz. Die bewiesene Möglichkeit der Besinnung, entscheidende Fehler zu finden und wiedergutzumachen, ist nicht wenig ermutigend.