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Filmkritik
Früher trug Wilma (Fritzi Haberlandt) Blaumann, arbeitete als Maschinistin und Elektrikerin in einer Brigade und hatte in dem Lausitzer Kohlekraftwerk „Sonne“ ihre Wirk- und Werkstätte. Nach der Wende wurde der Betrieb allerdings abgewickelt. Bald war das Kraftwerk nur noch ein museales Relikt, in dem Wilma Führungen veranstaltete. Immerhin hatte sie Ende der 1990er-Jahre noch ihre Freundinnen von früher, züchtete Alpakas und arbeitete als überqualifizierte Arbeitskraft in einem Elektroladen. Als sie aber auch dort entlassen wird und ihr Ehemann Alex (Thomas Gerber) sie außerdem noch mit einer ihrer Freundinnen betrügt, türmt Wilma. Sie besteigt einen Bus nach Wien, wo ein ehemaliger „Sonne“-Ingenieur jetzt einen Baumarkt leitet. In seiner Laube darf Wilma wohnen und in seinem Baumarkt arbeiten – erneut als überqualifizierte Arbeitskraft.
Mit ostdeutscher Führungsqualität
Dann aber wird Wilma der Werkzeugkasten gestohlen, in dem sich auch alle ihre Zeugnisse und Qualifikationen befinden. Eine Katastrophe, denn damit sind alle Nachweise ihres Arbeitslebens futsch. Doch Wilma beißt sich durch, übernachtet kurzfristig in einem Wohnheim für Männer und geht auf den Handwerkerstrich. Dort engagiert sie eine betuchte Frau für ihr Haus im Wiener Speckgürtel als Elektrikerin. Dabei lernt Wilma den Maler Max (Simon Steinhorst) kennen, einen verkappten Poeten. In dessen WG bezieht sie eine Abstellkammer und funktioniert sie zu einem wohnlichen Zimmer um.
Die Eigentümerin der Wohnung, eine Professorin für Geisteswissenschaften, begegnet Wilma zunächst mit Wiener Schnöseligkeit, doch das legt sich bald. Denn Wilma lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Auch wenn sie auf den ersten Blick unscheinbar wirkt, verfügt sie über Kraft und enormes Durchsetzungsvermögen und nimmt mit ihrer schnörkellosen Art für sich ein. Wilma ist nach eigenen Angaben und im alten DDR-Vokabular „Elektriker, Schlosser, Maschinist – mit Führungsqualitäten in der Brigade“ und kennt sich zudem mit Äpfeln und Tanzen aus. Männern gefällt sie auch. Mit Anatol (Valentin Postlmayr) angelt sie sich bald ein Wiener „Schatzerl“.
Eine Ossi unter Ösis
Dass es Wilma nach Österreich verschlägt und nicht in die alten Bundesländer, erweist sich als geschickter Schachzug von Regisseurin und Drehbuchautorin Maren-Kea Freese. Im Westen wäre Wilma sofort auf ihre Herkunft reduziert worden. Womöglich hätten Vorurteile einen Neuanfang erschwert oder vereitelt. Zumindest wäre „Wilma will mehr“ ein gänzlich anderer Film geworden. Wien dagegen, als eigenständige, ausländische, aber deutschsprachige Metropole, ist ein anderes Pflaster. Dort kennt man sich mit deutsch-deutschen Befindlichkeiten und Streitigkeiten weniger aus. Zwar finden auch die Ösis, dass die Ossis mitunter naiv sind. Doch wenn Wilma etwas leistet – und sie leistet viel –, wird das anerkannt.
Eigentlich schert man sich in Wien nicht um Herkunft. Doch wenn Wilma über ihr vergangenes Leben und die Mentalität ihrer Landsleute spricht, stößt sie doch auf Interesse. Bei einem feucht-fröhlichen Abend mit einem Dia-Vortrag von Wilma über die Lausitz und ihr ehemaliges Kraftwerk wird sie von ihren neuen Freunden gefeiert. Man stößt ganz im internationalistischen Sinne auf Karl Marx an und intoniert gemeinsam das DDR-Agitationslied „Sag mir, wo du stehst“.
Eine Frau will sich entfalten
Dennoch hat sich der Film weder Ostalgie noch eine Analyse der Umbruchszeit auf die Fahnen geschrieben. Es geht in erster Linie um eine Frau, die aus der Enge ihrer Heimat herausfindet und sich nach langer Zeit wieder entfalten kann. Als die Arbeits- und Lebensgrundlagen um sie herum zusammenbrechen, wagt Wilma den Ausbruch und stellt fest, dass sie auch in der Fremde gut zurechtkommt. Das liegt an ihrer beruflichen Vielseitigkeit, aber auch an ihrem Pragmatismus, mit dem sie sich auf neue Menschen und Mentalitäten einlassen kann. Sie greift Gelegenheiten beim Schopfe – aus Notwendigkeit, aber auch, weil sie die Abenteurerin in sich entdeckt. Fritzi Haberlandt trägt den Film mit Bravour und wirkt durch und durch glaubhaft. Selbst in Momenten der Verzweiflung rafft sich ihre Figur mit Brandenburger Dialekt wieder auf. Von dem, was sie in ihrem bisherigen Leben gelernt hat, kann sie in Wien jede Menge anwenden.
Der Film spart nicht mit Humor, wenn er auf Kulturschocks eingeht. Gewisse Wiener Ausdrücke, etwa am Würstelstand, muss Wilma erst einmal lernen. Auch die zunächst eingebildet wirkenden Wiener versteht sie nach einer Weile besser. Sie freundet sich mit der Professorin (Meret Engelhart) an und assistiert einem Tanzlehrer, der asiatischen Touristen in einem Crashkurs den Wiener Walzer beibringt. So hat sie bald eine heitere Wiener Clique um sich versammelt, die an Zusammenhalt und Humor ihren Weggefährt:innen im Osten nicht nachsteht.
Dem Leben Struktur verleihen
Dass „Wilma will mehr“ Ende der 1990er-Jahre spielt, hat den Vorteil, dass die Protagonistin nicht immer erreichbar ist und keine Rücksichten nehmen muss. Auf ihrem simplen Nokia-Handy ohne Internetzugang kann die Mutter eines erwachsenen Sohnes unliebsame Anrufe wie etwa vom Ehemann ohne weiteres wegdrücken. Ihre Wut auf den untreuen Gatten durchzieht in surrealistischen (Alb-)Träumen den Film. Dort erscheint Alex beispielsweise als Kopf auf einem Schraubsockel neben einer Reihe überdimensionaler Glühbirnen. In der Lausitz ist Wilma zu oft als selbstverständlich wahrgenommen worden. Nun aber kann sie ihren Ex einfach wegdrehen und ausblenden.
Es gibt Momente, in denen der Erzählfluss ins Stocken kommt, weil sich die Inszenierung zu sehr im anekdotischen Erzählen gefällt und die Protagonistin immer noch mehr erlebt. Doch der Tenor des Films ist klar. Wilma will nicht nur mehr, sondern schafft auch mehr. Sie nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Statt sich vom Strukturwandel bestimmen zu lassen, gibt sie ihrem Leben selbst Struktur.