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Filmkritik
Westjordanland 1988. Noor, ein palästinensischer Teenager, nimmt nur zu bereitwillig an einer Demonstration gegen die israelische Besatzung teil. Doch dann wird er von einem Soldaten angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Plötzlich friert das Bild ein, und Noors Mutter Hanan, dargestellt von der amerikanisch-palästinensischen Regisseurin Cherien Dabis, wendet sich voller Zorn an die Zuschauer, um ihre Geschichte zu erzählen – sieben Jahrzehnte im Leben einer entwurzelten Familie. Eine Entwurzelung, die 1948, nach dem Rückzug der Briten aus dem Mandatsgebiet Palästina und dem Angriff der arabischen Staaten auf die jüdische Bevölkerung, beginnt. Eben noch hatte Sharif, der Großvater von Noor, seinen Sohn Salim hochgehoben, damit er eine Orange vom Baum im Garten pflücken kann. Doch dann bombardieren paramilitärische Truppen Jaffa und vertreiben die Palästinenser aus ihren Wohnungen. Sharif weigert sich, die Stadt zu verlassen und wird prompt verhaftet. Seine Frau jedoch verlässt mit den Kindern Jaffa und geht ins Westjordanland.
Eine Demütigung, die er nicht vergessen kann
30 Jahre später geht noch immer ein Riss durch die Familie: Während Sharif seinen Enkeln von den „guten, alten Zeiten“ vorschwärmt, will sich sein Sohn Salim pragmatisch an die neuen Verhältnisse anpassen. Doch das geht gründlich schief, wie eine emblematische Szene auf dem abendlichen Nachhauseweg beweist: Salim und sein noch kleiner Sohn Noor werden von Soldaten angehalten und bedroht. Nicht nur, dass der Vater sich selbst als Esel bezeichnen muss – er soll auch lautstark Noors Mutter als Hure beschimpfen. Eine Demütigung, die Noor nicht vergessen kann. Die Brücke zum Beginn des Films ist geschlagen.
Ein bewegendes Familienepos hat die Regisseurin im Sinn, angelegt über 70 Jahre, festgemacht an wichtigen Ereignissen wie der Staatsgründung Israels oder der Intifada, mit einem Erzählbogen bis fast in unsere Gegenwart. Cherien Dabis macht mit ihrem Film eindringlich deutlich, wie lange der Nahost-Konflikt schon andauert, ohne Aussicht auf eine Lösung wie die vielzitierten „Zwei Staaten“, aber mit der Hoffnung auf Versöhnung von Israelis und Palästinensern. Allerdings: Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 steht dieser Hoffnung diametral entgegen. Die Ermordung von 1400 Israelis, der lange Krieg im Gaza-Streifen, die vielen Toten, das Entsetzen der Weltöffentlichkeit, die Demonstrationen von Geiselangehörigen in Tel Aviv, die verzweifelten Diskussionen, das Grauen der Fernsehnachrichten zeigen, wie weit weg der Nahe Osten von einem dauerhaften Frieden ist. Dabis blendet das aus, blickt stattdessen zurück, fast ein wenig nostalgisch, wie die lichtdurchfluteten, warmen und farbenfrohen Bilder aus dem Jaffa der unmittelbaren Nachkriegszeit beweisen.
Von Generation zu Generation weitergetragen
Sie forscht aus rein palästinensischer Sicht nach den Ursachen des Konflikts und macht ihn beispielhaft an einer Familie fest. Die Vertreibung aus dem eigenen Heim, aus der Heimat, ist ein Trauma, das sich nicht so schnell heilen lässt und von Generation zu Generation weitergetragen wird. Salims Kleinmut und Ängstlichkeit sind ohne Sharifs Verhaftung nicht denkbar, ebenso wie Noors Radikalisierung erst durch Salims Beschämung durch die Soldaten ausgelöst wird. Doch diese Herleitung würde den Zuschauer emotional nicht packen, könnte in ihrer einseitigen Präsentation wohl sogar abstoßen, hätte Dabis nicht auch Menschen gezeichnet, die einfach bloß leben wollen. So beginnt der zweite Erzählstrang mit einer turbulenten Hochzeitsfeier, auf der die Gäste ausgelassen tanzen. Immer wieder zeigt der Film Szenen alltäglicher Normalität, es wird gesungen, es wird gespielt, es wird in der Schule gelernt.
Kurzum: Das Leben geht weiter. Cherien Dabis verquickt persönliche Schicksale mit der Geschichte, sie sind voneinander nicht zu trennen. Das macht ihren Film lebendig und kraftvoll.
