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Karla

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Schon, als sich Karla und Paul zum ersten mal im Diner über den Weg laufen, ist es Liebe auf den ersten Blick, und bald fliegen die Funken zwischen der sexhungrigen jungen Frau und dem charmanten Womanizer, hinter dessen freundlicher Fassade ein Schläger, Serienvergewaltiger und Mörder lauert. Karla wird ihm hörig und zögert nicht, dem Wüstling die eigene, jüngere Schwester für letztlich tödliche Liebesspiele zuzuführen. Später im Gefängnis soll ein Gutachter klären, inwieweit Karla für ihre Taten verantwortlich war.
  • Veröffentlichung01.01.2019
  • Joel Bender
  • 123 Minuten
  • DramaThrillerKrimi
  • 5/10 (105) Stimmen

Leider gibt es keine Kinos.

Karla (Elise Krieps) läuft weg. Ein kurzer Blickwechsel noch mit der Mutter, dem vielleicht ein unausgesprochenes Einverständnis innewohnt; der kleine Bruder hält sich die Augen zu und zählt, wie beim Versteckspiel. Aber Karla läuft, von der Straße durch den Wald über eine Lichtung und immer weiter, bis sie mitten in der Nacht in einem Revier der Münchner Stadtpolizei auftaucht. Sie wolle Anzeige erstatten gegen Karl Ebel, ihren Vater.

Keine Wörter, aber Übelkeit und Erbrechen

Es ist das Jahr 1962, im Büro dominieren dunkle Grün- und Brauntöne, nur Männer sind anwesend. Karla besteht darauf, einen Richter zu sprechen, und als schließlich Friedrich Lamy (Rainer Bock) auftaucht, um sie anzuhören, erwähnt sie den Paragrafen 176 im Strafgesetzbuch; sie hat in der Bibliothek davon gelesen. Heute trägt der Paragraf den Titel „Sexueller Missbrauch von Kindern“; Karla zitiert, es könne mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden, „wer mit Kindern unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt“.

Das juristische Vokabular ist fürs Erste ein wenig dazu da, um die Sprachlosigkeit zu umgehen, die mit diesem Verbrechen verbunden ist. Lamy wird Klara im Verlauf ihrer Gespräche einmal bitten, doch ganz genau zu beschreiben, was ihr angetan wurde. Doch dafür gibt es dann keine Begriffe, nicht in ihrer Welt, nicht in dieser Zeit, sondern nur eine unmittelbare, vegetative Reaktion: sofortige Übelkeit, Erbrechen. Irgendwie muss die Wahrheit ja raus.

Zu unkonkret fürs Gericht

Yvonne Görlach hat das Drehbuch von „Karla“ an einen realen Fall angelehnt. Regisseurin Christina Tournatzẽs bleibt bis auf wenige Szenen bei der jungen Protagonistin und verzichtet auf jeden Sensationalismus. Retraumatisierungen äußern sich in kurzen filmischen Flashbacks, die mehr verbergen (ein Blick der Mutter) als zeigen (ein blutiges Laken) und dennoch genug erkennen lassen.

„Karla“ beginnt mit kurzen Unterwasserbildern, für die es noch keinen Kontext gibt – umso schmerzhafter, wuchtiger laden sie sich später auf. Der Film breitet schrecklichste Wahrheiten in ruhigen Bildern aus; man muss das Verbrechen nicht zeigen, um seine verheerende Wirkung begreiflich zu machen.

Vom Drama wird „Karla“ gegen Ende zum Gerichtsfilm; bei allem aber bleibt er zugleich stets auch ein Zeitportrait der frühen Bundesrepublik. Die Töchter werden nach Männern benannt, Karla selbst fände Klara schöner, den Namen, den ihr im Mädchenheim die etwas selbstbewusstere Ada gibt – kurz für Adolfine, die Familiengeschichte dahinter lässt sich nur erahnen. Der Richter Lamy, der mit Karla eigentlich nichts anfangen kann, weil er fürchtet, ihre Erzählungen würden vor Gericht wertlos, da zu wenig konkret sein, trägt seine eigenen Verluste mit sich herum, wird aber von seiner Sekretärin (Imogen Kogge) sanft auf den rechten Weg geschubst.

Mit all dem umkreist der Film die Unmöglichkeit, angemessen über das Verbrechen zu sprechen, das Karlas Vater begangen hat. Es gibt biologische bis kriminalistische Begriffe dafür, aber als der Verteidiger von Karl Ebel sie vor Gericht benutzt, wirken sie krude, unangemessen und distanziert. Der Film hat da längst ein genaueres Bild von den Schmerzen und Grausamkeiten gezeichnet, die Karla aushalten musste, ohne sie je zu benennen oder zu zeigen.

Als Kommunikationsmittel dient eine Stimmgabel, die Lamy und Karla im Gespräch nutzen – wann immer sie von einer Gewalterfahrung berichtet, schlägt sie die Stimmgabel an, statt aussprechen und erneut leiden zu müssen. Niemals klingt der Ton danach frei und hell nach; immer ist er dissonant und kurz, eine klare, bittere Markierung.

Niemand ist unversehrt

Die Gespräche zwischen Richter und Klägerin, junger Frau und altem Mann, machen den Kern dieses Films aus. Wie sie anfangs schroff einander gegenübersitzen, er gefangen in den Anforderungen des Gerichtsverfahrens, sie fest entschlossen, auch für etwas Gehör zu finden, für das sie keine Worte hat. Daraus entwickelt sich, stets ohne große Worte, aber mit zunehmendem Respekt und Mitgefühl, eine Nähe, in der Lamy Verletzlichkeit wiederfindet und Karla Vertrauen schöpft – ohne dass „Karla“ je zu einer kitschigen Heilungsgeschichte würde.

Niemand hier ist unversehrt. Aber diese Versehrten finden zusammen. Das ist das kleine Pathos, das sich der Film erlaubt: der Wille, über große Hürden hinweg Wege zu finden und einander zu verstehen. Zugleich findet die Inszenierung einen Ausdruck dafür, dass Recht zwar „verhandelt“ wird, es aber Taten gibt, die unhintergehbar falsch sind. Einmal will Lamy von Karla wissen „wie oft es passiert ist“ – auch eine solche Sprachlosigkeit im „es“. Irgendeine Zahl, „oft“ reiche nicht, denn „anhand einer Zahl kann man ablesen, wie schlimm etwas ist“. In diesem Moment leuchten Diskussionen auf, die bis heute in Gerichtsverfahren zu Vergewaltigungen immer noch auftauchen. Karla aber lässt die Denkstrukturen dahinter mit einer einfachen Frage platzen: „Ab wie viel ist’s schlimm?“

Veröffentlicht auf filmdienst.deKarlaVon: Rochus Wolff (1.10.2025)
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