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Rote Sterne überm Feld

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Mitten in der ostdeutschen Provinz wird ein wohlkonserviertes Skelett aus dem Moor gezogen. Tine und das Dorf spekulieren: Wer könnte das gewesen sein? Ein desertierter Wehrmachtssoldat? Ein verzweifelter LPGler? Der ominöse 3. Mann vom BND? Es entspinnt sich ein historisches Rätsel, in dem das letzte deutsche Jahrhundert im Heute eines Landstrichs aufscheint. Tine fragt sich: Was geht mich das an? Bis sie am eigenen Leib erfährt, wie sich die Geschichte in ihr Leben mischt.
Dies ist ein Film über eine junge Frau, ein altes Skelett und die letzten 100 Jahre der deutschen Geschichte. Ein Film in vier Akten, vier Jahreszeiten und vier Epochen.
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Es schwebt wieder ein Engel über Berlin. Es muss der Engel der Geschichte sein, denn er spricht, abwechselnd mit den Stimmen einer Frau und eines kleinen Mädchens, die berühmten Zeilen aus Walter Benjamins geschichtsphilosophischem Essay „Über den Begriff der Geschichte“: „... wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe. ... Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.“ Dazu sieht man ein paar zentrale Begriffe in Neonschrift, während die Kamera über die deutsche Hauptstadt gleitet.

Untertauchen in Bad Kleinen

Es ist ein spektakulärer Auftakt, der bezaubert, an die Montagefilme von Alexander Kluge und Jean-Luc Godard erinnert und dem Publikum das Gefühl vermittelt, sich ihm anvertrauen zu können, weil er es so ruhig und sicher bei der Hand nimmt wie ein Engel seine Schutzbefohlenen. Im nächsten Augenblick aber kommt der Film auf dem Boden der irdischen Tatsachen an. Tine (Hannah Ehrlichmann), eine junge Polit-Kunstaktivistin, hisst in einer gewagten Aktion rote Fahnen auf dem Reichstag. Sie wird daraufhin von der Polizei und dem Verfassungsschutz gesucht und taucht im Ort ihrer Kindheit unter, der mecklenburgischen Stadt Bad Kleinen.

Diese Stadt spielt einen historischen Augenblick lang eine wichtige Rolle in der Geschichte der Bundesrepublik; 1993 wurden hier auf dem Bahnhof der RAF-Terrorist Wolfgang Grams und ein GSG-9-Mann erschossen. Zeugen des Geschehens widersprachen sich, Mordverdacht stand im Raum, der Bundesinnenminister trat unter Hinweis auf Einsatzpannen zurück. Lange Zeit war in Zeugenberichten auch von einem dritten Toten die Rede. Bis heute sind die Ereignisse nicht völlig aufgeklärt.

Damit hat man es schon in den ersten Minuten mit gleich zwei schillernden Erinnerungsorten zu tun. Offenkundig geht es hier um den geschichtlichen Möglichkeitssinn. Um die lebendigen Widersprüche im Vergangenen. Und um die Macht und Präsenz der Vergangenheit und ihrer Möglichkeiten in der Gegenwart. Auch um die Frage, was dabei herauskommt, wenn man zurückblickt.

Mischung aus Genre und Autorenkino

Weiteres kommt hinzu: Eine Moorleiche wird gefunden. Die Suche nach ihrer Identität steht im Zentrum der nun folgenden Ermittlungsarbeit; der mythische Erlkönig taucht immer wieder auf, als Verführer aus der Schwärze des Todes; weitere Szenen spielen mit historischen Erinnerungen und dem filmischen und kulturellen Gedächtnis. Die Regisseurin Laura Laabs entwirft ein dichtes Geflecht aus Handlungsebenen und Zeichen. In unerwarteten Bildern und mit Bildern des Unerwarteten entsteht eine Mischung aus Genre und Autorenkino.

Zugleich besitzt der Film eine sehr gradlinige, einfache Erzählstruktur. Die Protagonistin Tine kehrt wie in einem Western an den Ort zurück, den sie vor langer Zeit verlassen hat, und wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert – der Mutter, die einst verschwand, ihrer Familiengeschichte und der unaufgearbeiteten DDR-Vergangenheit –, aber auch mit den Gespenstern der deutschen Geschichte. Denn im Zuge ihrer Suche kommen alte Briefe zum Vorschein, es werden Geheimnisse aus Familien- und Dorfgeschichte gelüftet und Geschichten erzählt. Dazu gesellen sich Tag- und Albträume, Erinnerungen und Zeitreisen.

„Rote Sterne überm Feld“ umfasst mindestens vier Zeitebenen. Sie alle stehen für nicht aufgearbeitete Momente aus der deutschen Geschichte: die NS-Diktatur, der Zweite Weltkrieg und die NS-Begeisterung der Bevölkerung; die DDR und ihr Stasi-Apparat; ihre Abwicklung nach der Wende 1989; die RAF, deren Mitglieder in Ostdeutschland neue Identitäten fanden, sowie der Vorfall in Bad Kleinen; plus die Gegenwart, aus der auf all das zurückgeblickt wird. Tine fungiert dabei als Führerin durch die verschiedenen Zeiten und als deren Klammer. Immer wieder fragt sie nach Gerechtigkeit, nach den Möglichkeiten der Politisierung und der Veränderung des Geschehens.

Tomaten aus dem Supermarkt

In der Gegenwart sprengen Aktivisten Windräder in die Luft, in der Vergangenheit werden Wehrmachtssoldaten zum Desertieren gebracht, und es stellt sich heraus, dass eine Mutter bei der RAF war, und mehr als ein Vater bei der Stasi.

Der Film ist eine Ode an die Kunst des Erzählens und auf jene Erzählungen, die über Generationen reichen, die Gesellschaft formen und sich zu jenen Schichten verdichten, aus denen die Geschichte gemacht ist. Die interessanteste dieser Geschichten ereignet sich Anfang der 1990er-Jahre. Zur Erbmasse der DDR gehören die LPGs. Genossenschaften sind zwar weiter erlaubt, doch die landwirtschaftlichen Großbetriebe sind den neuen Herren ein Dorn im Auge. Der Leiter der örtlichen LPG will bei der Abwicklung aber nicht mitmachen und stachelt zum Widerstand an. Warum soll man auch die eigenen Tomatenfelder stilllegen, um dann holländische Tomaten im neuen Supermarkt zu kaufen?

Es ist faszinierend, wie souverän und virtuos die Inszenierung all das stilistisch zusammenhält und dabei nie die Orientierung verliert. „Rote Sterne überm Feld“ ist ein beziehungsreicher, ausdeutbarer Text, der mit Bildern operiert. Die Regisseurin wechselt zwischen Brecht’scher Verfremdung und schwelgerischer Hingabe an den Traumcharakter des Kinos. Die Machart, insbesondere die Montage von Emma Gräf, erinnert dennoch mehr an Kluges ironische Brechungen und Distanzierungen. Man könnte analog zum anfänglichen Theorie-Gedicht Benjamins von einem äquivalenten Kino als Gedankenraum sprechen: Weil in Bildern erzählt wird und diese ausdeutbar, uneindeutig und widersprüchlich sind, verändert sich der Raum kaleidoskopisch.

Der größere Möglichkeitsraum

Das verbindende Element ist die atmende Kamera von Carlos Vasquez, die empathisch bleibt, ohne in Kitsch abzugleiten. Und ein hellwacher Sinn für Ambivalenzen und Ambiguitäten. Das klassische psychologische Erzählen und die herkömmlichen Figuren des traditionellen Kinos wirken demgegenüber eindeutig und schal.

Getragen wird der Film von mehr als einem Dutzend guter Schauspieler – neben Hannah Ehrlichmann ragen insbesondere Andreas Döhler und Hermann Beyer heraus –, die zusammen mit vielen Laien zu sehen sind. Manche spielen mehrere Rollen, Jule Böwe sogar drei. Man spürt, dass sie den größeren Möglichkeitsraum zu schätzen wissen.

Einige Referenzen liegen offen zutage, andere sind versteckter. Der Film wirbelt erstaunlich sinnvoll viele Einfälle aus Philosophie und Politik, Geschichte und Gegenwart, Utopie und Zeitgeist zusammen, zitiert Agitprop aus den 1960er-Jahren und UdSSR-Kino, DDR-Musik und Heimatschnulzen. Das Ergebnis sieht manchmal wie „Twin Peaks“ aus, mal wie „Midsommar“, „Das weiße Band“ oder ein deutsches „Inception“. Alle diese Vergleiche treffen zu – und führen doch in die Irre, denn sie überfrachten die Erwartung. Denn „Rote Sterne überm Feld“ ist alles andere als ein kalkulierter, kühl arrangierter Strom aus Pop-Zitaten. Es ist vielmehr ein persönlicher Film, bei dem man spürt, wie sehr er der Regisseurin am Herzen lag.

Ein Kaleidoskop deutscher Zeitgeschichte

Man wird auch Bezüge zur neuen Debatte des Verhältnisses zwischen Ost- und Westdeutschland finden. Laabs zeichnet das Porträt einer Gesellschaft am Kipppunkt. Dennoch bleibt der Film ein Werk der Ambivalenzen und der Öffnungen. Film sei „das Medium, um Tote zum Leben zu erwecken“, hat Jean-Luc Godard geschrieben. Deshalb darf man sich hier durchaus die Frage stellen, was es heißen könnte, ein linkes, widerspenstiges Kino zu machen, das also gleichzeitig reflektierend und intellektuell und doch auch sinnlich ist. Wie lassen sich die Traditionen des politischen Kinos in Deutschland, die mit den Namen von Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder verbunden sind, zeitgemäß aktualisieren?

Im Film taucht die Idee einer „ästhetischen Linken“ auf. Darüber wurde lange nicht mehr gesprochen. Vielleicht wäre es an der Zeit, darüber neu nachzudenken. Auch darüber, inwieweit „Rote Sterne überm Feld“ selbst Ausdruck oder ein Statement einer solchen ästhetischen Linken ist. Eines Kinos, das in dieser Widerständigkeit den Charakter des Mediums als Zeitreise, als Traumfabrik, als Geisterbeschwörung nicht verrät.

„Rote Sterne überm Feld“ ist keineswegs perfekt. Er nimmt jedoch für sich ein, weil er experimentell Dinge ausprobiert und über sehr viele Einfälle verfügt, von denen die meisten gut funktionieren. Und weil er anspruchsvoll ist. Endlich mal ein deutscher Film, dem es um frische Ausdrucksformen, Empfindungen und ein besseres Kino geht. Das Ergebnis ist ein wilder, bezaubernder Film und eines der schönsten Werke des deutschen Kinojahres – darin nicht unähnlich der anderen aufregenden Entdeckung, Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“.

Veröffentlicht auf filmdienst.deRote Sterne überm FeldVon: Rüdiger Suchsland (5.11.2025)
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