







- Veröffentlichung07.08.2025
- RegieJulian Radlmaier
- ProduktionDeutschland (2025)
- Dauer90 Minuten
- GenreKomödie
- Cast
Vorstellungen

Filmkritik
Das Ende der Knechtschaft könnte im Himmelreich beginnen, vielleicht aber auch schon früher – und näher gelegen, in Frankreich. Dort ist gerade die Revolution ausgebrochen. Alle Menschen leben dort gleich. Lotte, als Magd auf dem Hof des frühromantischen Dichters Novalis beschäftigt, hört die Neuigkeiten von einem steinschluckenden Gaukler. Mit gestohlenen Pferden machen sich die beiden auf den Weg Richtung klassenlose Gesellschaft, doch weit kommen sie nicht. Lotte flüchtet sich in eine dunkle Höhle. Als das Bild ganz schwarz ist, knipst plötzlich jemand das Licht an, um Staub zu saugen: ein Möbelladen in Sangerhausen, rund 235 Jahre später. Die Magd ist jetzt Niedriglohnarbeiterin und heißt Ursula. Neben der Enge ihrer Lebensverhältnisse und einer unbestimmten Sehnsucht ist sie mit Lotte (unter anderem) auch durch einen besonderen Stein verbunden, der auf einer Wiese in Sachsen-Anhalt liegt und in der Folge durch verschiedene Hände und einen Darm wandert.
In „Sehnsucht in Sangerhausen“ von Julian Radlmaier gibt es noch andere Objekte, die die Figuren durch die Zeit und über andere – vermeintlich existente – Grenzen hinweg miteinander verbinden. Etwa Kirschen, die Lotte vom Baum pflückt und Ursula an der Supermarktkasse auf das Förderband legt, bevor sie sich eingestehen muss, dass sie trotz ihres Zweitjobs als Kellnerin dafür nicht das Budget hat. Aber auch jenseits von Steinen und Kirschen scheinen sich in der schmucken Berg- und Rosenstadt, über der pyramidenähnlich eine Abraumhalde thront, zahlreiche Wege miteinander zu verknüpfen. Manche Begegnungen sind nur von kurzer Dauer, lösen Bitterkeit oder Herzschmerz aus oder beginnen holprig; andere sind geisterhaft. Denn nicht nur im örtlichen Kino spukt es.
Kleine Auswege und Fluchten
Drei Arbeiterinnen, Lotte, Ursula und Neda, wissen um ihre begrenzten Möglichkeiten und suchen nach kleinen Auswegen und Fluchten. Für Ursula ist es Zulima, die eigentlich Sophie heißt, eine Geigerin aus der Stadt ist und einer anderen, bürgerlichen Klasse angehört – und außerdem aus Westdeutschland stammt, was ihr Nichtwissen über die DEFA-Geschichte verrät („Renate Krößner? – Nie gehört!“). Kaum hat sie bei Ursula romantische Empfindungen geweckt, ist sie schon wieder fort.
Die Iranerin Neda hat bei Abbas Kiarostami studiert, bevor sie das Land verließ und in Deutschland Asyl beantragte. Im Kampf um einen dauerhaften Aufenthaltsstatus und gegen den täglichen Rassismus ist von ihren künstlerischen Ambitionen wenig übriggeblieben. Als Influencerin, die sich auf billige Reiseziele spezialisiert hat, schleppt sie mit gebrochenem Arm ihr Kameraequipment durch die Stadt und dreht Clips für ihren Youtube-Kanal. So macht sie die Bekanntschaft von Sung-Nam, einem älteren Mann koreanischer Herkunft, der Reisetouren mit seinem klimatisierten Kleinbus anbietet und seinen Wahlenkel Buk bei sich hat.
Auf der Suche nach Abstraktion
Wie schon „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ und „Blutsauger“ kreist „Sehnsucht in Sangerhausen“ um Klassenverhältnisse und Möglichkeiten oder vielmehr Unmöglichkeiten eines besseren Lebens. Auch der neue Film steckt voller Referenzen, ist verspielt, im Ansatz post-dramatisch und formal auf der Suche nach Abstraktion. In den auf Super-16-mm gedrehten Bildern von Faraz Fesharaki verbinden sich die für Radlmaier typischen tableau-artigen Rahmungen und bühnenhaften Arrangements mit weichen Kameraschwenks und Zooms, die über ihre Hinweisfunktion hinaus etwas Zugewandtes ausstrahlen. Der Film wirkt im Unterschied zu den Vorgängern weniger selbstironisch, ernsthafter und konkreter mit der Gegenwart befasst, und das nicht nur, weil aus den Fernseh- und Radioapparaten Christian Lindner und Friedrich Merz Ressentiments gegen Arbeitsunwillige und Migranten schüren.
Radlmaiers Sangerhausen ist keine Modellwelt, sondern ein realexistierender Ort, der zwar anders aussieht als im Kino „der Osten“ üblicherweise aussieht – floral, frisch, fast üppig –, aber doch handfest bleibt und dabei auch die politischen Realitäten benennt. Aus dem Erzählrahmen sind die intellektuellen Klugschwätzer verschwunden, die den Arbeitenden die Welt erklären beziehungsweise den Einheimischen ihre Stadt. Die können sehr gut für sich selbst sprechen, nicht nur als autodidaktische Lokalhistorikerin mit Wissen über die deutsche Romantik, DDR-Bergbau und Orte wie den Kyffhäuser.
Im Stein finden die Wege der drei Frauen zusammen. Dort wartet zwar kein Ausweg, aber ein Eingang – und, zumindest für einen Moment, das Gefühl einer überzeitlichen, solidarischen Gemeinschaft. Es muss nicht immer Revolution sein.