
- RegieMaryna Vroda
- GenreDrama
- Cast
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
Ein Hof in einem verstreuten Dorf, irgendwo in der Ostukraine. Die nächste Stadt ist fern. Strom gibt es nicht. Auto fährt nur, wer von auswärts kommt und etwas bringt: Lebensmittel, Batterien, Kerzen, Zigaretten, Verträge zum Unterschreiben, Menschen.
Einer, der von auswärts kommt, ist Anatoliy (Oleksander Maxiakow). Er ist nicht mehr der Jüngste und kommt mit dem Bus aus der Stadt, in die er vor Jahren gezogen ist. Mit im Bus sitzen einfache Menschen. Provinzbewohner, Arbeiter, Handwerker. Vielleicht auch ein Landwirt. Die meisten sind älter. Die Straße zum Dorf ist voller Schlaglöcher, die Fahrt entsprechend rumplig. Das Wetter am Ende des Winters ist nasskalt und trüb; in ein paar Wochen kommt vielleicht der Frühling.
Die Fahrt dauert. Sie führt Anatoliy an diesen Ort, an dem der Debütfilm von Maryna Vroda spielt. Hier hat die Regisseurin, die bei ihren Großeltern aufwuchs, ihre Kindheit verbracht. Auch Anatoliy, der seine kranke Mutter besucht, ist dort auf dem Hof aufgewachsen. „Stepne“ ist damit im doppelten Sinne eine Rückkehr an einen Ort, der früher das Zuhause bedeutet. Und vielleicht auch jetzt noch: gefühlte Heimat. Doch das Leben hat Krusten über diesen Begriff und die damit verbundenen Gefühle und Erinnerungen wachsen lassen.
Der Bus stoppt in freier Landschaft; eine gekennzeichnete Haltestelle ist nicht auszumachen. Anatoliy, eine kleine Reisetasche in der einen, eine Einkaufstüte voller Lebensmittel in der anderen Hand, geht zu Fuß eine Straße entlang. Diese, ein besserer Feldweg, führt durch licht bewaldetes Gebiet. Der Hof der sterbenden Mutter liegt etwas abseits, am Fuße einer kleinen Erhebung. Es ist gegen Abend, Anatoliy scheint zu frösteln
Strom gibt es keinen
Als der Mann ankommt, liegt die Mutter (Nina Antonowa) schlafend im Bett. Eine Frau ist da, Anya (Radmila Schegolewa). Anatoliy kennt sie von früher. Sie pflegt die Mutter, erledigt den Haushalt und kommt auch an den folgenden Tagen regelmäßig vorbei. Sie gibt Anatoliy einige Anweisungen, die den Zustand der Mutter und ihre Medikamente betreffen. Als es dunkel wird, verabschiedet sich Anya und geht fort, zu dem Mann, den sie geheiratet hat. Vielleicht war da mal was zwischen Anya und Anatoliy.
Der Hof ist alt und heruntergekommen. Außer dem Hund Yula leben hier keine Tiere. Strom gibt es auch nicht; gekocht und geheizt wird mit Holz. Die Zimmerchen und Kammern, der Keller, Schuppen oder ehemaliger Stall sind voller Dinge, die man früher in der Landwirtschaft brauchte. Im Keller gibt es Eingemachtes, das schon seit Jahren dort steht. Im Schuppen findet Anatoliy Zeichnungen, die er in Jugendjahren gefertigt hat: Stillleben, Alltagsszenen, das Bild einer nackten Frau.
Sein jüngerer Bruder Lyosha (Oleh Primogenow), der nach dem Tod der Mutter auftaucht, findet im Schuppen später auch Dinge, die an den vor Jahren verstorbenen Vater erinnern. Darunter eine alte Pistole, die dieser im Boden vergraben hat, damit sie für die spielenden Kinder nicht gefährlich werden kann. Es sind neue Erinnerungen, die sich den Brüdern in ihrem Zusammensein eröffnen.
„Stepne“ gräbt sich tief in die Gegenwart und die Wirklichkeit dieses Ortes ein. Beim Leichenschmaus im Haus der verstorbenen Mutter werden Geschichten aus deren Leben, aber auch Episoden aus dem eigenen erzählt. Migrations- und Fluchtgeschichten, Erinnerungen an die bitterarme Kindheit, an Hunger, Kälte, Not und Krieg. An die Wurzeln, Knollen und das Gras, das man zu sich nahm, und an das ungläubige Entzücken, das eine mit echtem Mehl gebackene Köstlichkeit hervorrief. An früh verlorene Eltern, an zerrissene Familien. Und an die Ängste, die einen plagten, an Misshandlungen und an den Tod, der die eine oder den anderen schon als Kind erwischte.
Der Ort, an dem „Stepne“ spielt und dessen Name nie erwähnt wird, ist ein Schmelztiegel. Er liegt am Rande der Ukraine; gedreht wurde in der Region von Sumy. Menschen unterschiedlichster Herkunft sind hier gestrandet und geblieben. Obwohl für sie ein Leben in ihrer früheren Heimat nicht möglich war, hängt auch ein halbes Jahrhundert später die Sehnsucht danach melancholisch in der Luft. Die zum Totenmahl versammelten Gäste sind Nachbarn und Dorfbewohner, Freunde und Bekannte der Mutter; die meisten kennen Anatoliy und Lyosha noch von früher.
Sie werden von Laien dargestellt. Von Menschen, deren Körper gezeichnet sind, mit runzeligen Gesichtern voller Falten und Narben. Mit faltigen Händen, eingefallenen Wangen und Mündern fast ohne Zähne. Der Film zeigt sie liebevoll, eng nebeneinandersitzend, eifrig mit Reden und Essen beschäftigt, eingehüllt in eine warme Wolke gefühlten Zusammenseins. Man schlürft Suppe, kaut Brot. Trinkt Alkohol, manche bis zum Umfallen.
Dableiben oder weggehen
Lyosha, der sich von der Mutter nicht persönlich verabschiedet hat, packt plötzlich die Wehleidigkeit. Er arbeitet bei einer Sicherheitsfirma und hat mit der Vergangenheit abgeschlossen; er will möglichst bald in sein jetziges Leben zurück. Ganz anders Anatoliy. Er kümmerte sich in den letzten Jahren immer wieder um seine Mutter; auch jetzt ist er gekommen, um sie in ihren letzten Tagen zu begleiten. Er weiß nicht so genau, wann und ob er überhaupt wieder in die Stadt zurückreisen will. Lieber lässt er sich durch die Tage treiben.
Die Zeit in „Stepne“ dehnt sich, scheint zu verharren und zu erstarren. Die einzelnen Szenen werden immer länger. Schier endlos zieht sich der Leichenzug vom Hof bis zum Friedhof, der abseits im freien Feld liegt. Die Kamera nimmt das aus der Ferne auf. Wie in einem Scherenschnittfilm hebt sich entlang des Hügelgrats führende Trauerzug vom grauweißen Hintergrund des Himmels ab. Die Beerdigung ist vor allem eine Bestattung: das Versenken des Sarges in den Boden; danach wird Erde darauf geworfen. Dazu ertönt keine Trauermusik, sondern leiernde Gebete und ein mit brüchig-klagender Stimme vorgetragenes Lied.
Die Regisseurin Maryna Vroda wurde 1982 in der Ukraine geboren und hat 2011 mit ihrem Kurzfilm „Cross-Country“ in Cannes eine „Goldene Palme“ gewonnen. „Stepne“ ist ihr erster langer Spielfilm, an dem sie über zehn Jahre lang gearbeitet hat. In dem gemeinsam mit Kirill Schuwalow verfassten Drehbuch überlagern sich die Ereignisse der Gegenwart vor dem Ausbruch des Krieges im März 2022 mit den Erinnerungen an das, was ihre Kindheit prägte: den Zerfall der Sowjetunion und die dadurch resultierenden (geo-)politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen. Etwa die Gentrifizierung, welche die nachkommenden Generationen in die Städte treibt, weil sie auf dem Land kein Auskommen mehr finden.
Eine melancholische Ode
Vroda hat „Stepne“ in monochromen Farben gedreht. Sie erzählt minimalistisch, gibt den Bildern viel Raum, setzt Filmmusik sehr zurückhaltend ein. Es wird wenig gesprochen; außer wenn man zusammensitzt und trinkt. Die Dialoge sind knappgehalten, oft schwebt das Gemeinte zwischen den Menschen im Raum. Die beiden Brüder müssen sich nach dem Tod der Mutter einigen, was mit ihrem Hab und Gut und auch mit dem Hof geschehen soll. Das dauert und zieht sich hin. Noch einmal kommen Nachbarn, Freunde und Bekannte auf dem Hof vorbei und nehmen mit, was sie selbst vielleicht brauchen können. Es liegt viel Melancholie in der Luft, aber auch eine Art Aufbruchsstimmung, die in die Zukunft verweist, in der man ohne die Verstorbene weiterleben wird. Eine Zukunft, in der die Traditionen, wie sie in diesem beeindruckend schönen, aber auch von Tristesse überlagerten Film gezeigt werden, einer langsam verbleichenden Vergangenheit angehören.
„Stepne“ wurde im Wettbewerb von Locarno 2023 uraufgeführt. Maryna Vroda gewann einen „Leoparden“ für die beste Regie und den Preis der FIPRESCI-Jury.