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Filmkritik
Pierre (William Lebghil) ist Blumenhändler und nimmt seinen Beruf sehr ernst. In aller Herrgottsfrühe steht er auf, fährt mit seinem Angestellten Ibou (Salif Cissé) zum Großmarkt und feilscht um die Preise. Anschließend kümmert er sich im Geschäft um die Ware und seine Kunden, für die er immer ein gutes Wort parat hat. Eines Morgens bemerkt Ibou, dass Pierre genau dieselben Klamotten anhabe wie am Vortag. Pierre hat die Nacht mit Lisa (Alison Wheeler) verbracht. Aus Freundschaft hat sich mehr entwickelt. Doch als Isa ihn im Geschäft aufsucht, um ihm seine Uhr wiederzugeben, die er „absichtlich aus Versehen“ bei ihr gelassen hat, bringt sie ihn in Verlegenheit. Er findet auch nicht die richtigen Worte, um ihre Beziehung zu beschreiben, sodass Lisa verletzt wieder abzieht. Bald wird Pierre für gar nichts mehr Zeit haben, denn er erhält einen ominösen Anruf seiner Oma: „Deine Mutter ist da.“
Offenbar schrillen bei Pierre nun alle Alarmglocken, denn er lässt alles stehen und liegen und fährt zur Wohnung seiner Großmutter. Dort empfängt ihn seine Mutter Judith (Agnès Jaoui) euphorisch. Sie hört laut Musik, tanzt durch die Räume, zerschmettert die Gläser, aus denen sie Alkohol getrunken hat, und bittet ihren Sohn, an ihr zu riechen. Sie hat ihr bestes Lavendel-Parfum aufgelegt und ist nicht zu bremsen. Es stellt sich heraus, dass Judith manisch-depressiv ist und aus dem Heim weggelaufen ist. Pierre will sie umgehend wieder dorthin zurückbringen und täuscht einen Ausflug zum Friedhof vor, auf dem Judiths Vater begraben liegt.
Sich und andere wieder spüren
Auch im Auto ist Judith ausgelassen, raucht, redet laut und fasst alles an. Sie erzählt von früher, behauptet, dass die Sängerin France Gall bei ihnen zu Hause gewesen sei, hört laut ihre Musik – und wird misstrauisch, als die Autofahrt länger dauert. Pierres Plan, seine Mutter, die er seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat, einfach im Heim wieder abzuladen, geht nicht auf. Denn Judith hat ihre Medikamente abgesetzt. Sie will nicht mehr als „Gemüse“ vor sich hinvegetieren, sondern sich und andere wieder spüren. Vor allem aber hat sie Sehnsucht nach ihrem Sohn. Pierre hat keine andere Wahl, als sich auf seine Mutter einzulassen.
So beginnt in „Das Leben meiner Mutter“ eine Odyssee, die von Wünschen, Liebe, aber auch Überforderung und dem Willen nach Unabhängigkeit geprägt ist. Judith ist eine sehr vereinnahmende Person. Durch die fehlenden Medikamente hat sie alle Hemmungen verloren. Wenn Pierre sie kurz allein lässt, etwa an der Tankstelle, gehen Dinge zu Bruch. Oder sie entfernt sich, spricht wildfremde Männer an und will mit einem sogleich durchbrennen.
Regisseur und Co-Drehbuchautor Julien Carpentier legt Mutter und Sohn als Antipoden an. Auf der einen Seite steht der eher zurückhaltende Sohn, der sein Leben selbst gestalten und es zu etwas bringen möchte. Auf der anderen Seite die scheinbar haltlose Mutter, die vor allem Scherereien macht.
Dass es doch nicht so simpel ist, macht das unterhaltsame Familiendrama aber auch schnell klar. Pierre ist weder herzlos noch krampfhaft karriereorientiert. Er hat für seine Mutter viel geopfert und ihre Fehler ausgebügelt – darunter hohe Schulden. Doch nun, mit Anfang 30, möchte er sein eigenes Leben führen. Judith wiederum hat sich als alleinerziehende Mutter und trotz der aufkeimenden Krankheit aufopferungsvoll um ihren Sohn gekümmert. Beide müssen lernen, ihre eigenen Ansprüche zu überdenken, auf das Gegenüber einzugehen, Kompromisse zu finden.
Die Konstellation des Filmes ist gängig, man kennt sie aus „Rain Man“, „Am achten Tag“ oder ähnlichen Werken. Doch der Film versteht es innerhalb seines erzählerisch eng gesteckten Rahmens, der nicht viele Überraschungen besitzt, Klischees weitestgehend zu umgehen. Durch die Extravaganzen der Mutter kommt es zu mancher komischen Szene, aber auch zu seltsamen Momenten für den Sohn, etwa wenn Judith in der Apotheke extrasensible Kondome kauft und Pierre für ihren jugendlichen Liebhaber gehalten wird.
Steine halten ewig
Auch die filmische Form der Reise ermöglicht beiden Figuren, einander zuzuhören und voneinander zu lernen. Pierre und Judith sind viel im Auto unterwegs oder halten sich in eng definierten Orten oder Räumen auf. Damit setzt der Film eher wenig auf Schauwerte und konzentriert sich auf die Interaktion von Mutter und Sohn. Dennoch sind sich beide ähnlicher, als man denkt. In kleinen Begebenheiten und Anekdoten erfährt man einiges über ihre Familiengeschichte oder nimmt die eine oder andere allegorische oder praktische Info mit. An dem Grab ihres jüdischen Vaters, der auf einem christlichen Friedhof begraben ist, erklärt Judith ihrem Sohn die Tradition der Steinchen auf jüdischen Gräbern: Sie welken nicht wie Blumen und halten ewig, genau wie die Liebe, die man den Verstorbenen entgegenbringt. Dass Judith ihren Sohn Pierre genannt hat, was im Französischen zugleich auch „Stein“ bedeutet, ist kein Zufall.
Doch Blumen bedeuten ihr trotzdem viel und trösten sie über die Eintönigkeit im Heim hinweg, das sie als Gefängnis empfindet. Außerdem hätten Blumen eine Sprache und stünden für verschiedene Gefühle, kommentiert Judith. So lernen man einiges über Nelken oder Oleander, während die beiden Hauptfiguren über die Sprache der Blumen wieder Gefühle zulassen. Echte Empfindungen kommen auch durch einen Auftritt in einer Karaoke-Bar zur Entfaltung, wo beide das Chanson „Fais-moi une place“ von Julien Clerc schmettern – eine sehr offensichtliche und doch anrührende Aufforderung, der anderen Person wieder einen Platz im Herzen einzuräumen.
Mit Humor und Herz
Man kann bei „Das Leben meiner Mutter“ durchaus an die eigenen Arbeiten von Agnès Jaoui als Filmemacherin denken, doch hier hat sie hier weder Regie geführt noch am Drehbuch mitgewirkt. Sie konzentriert sich ganz auf ihr Schauspiel und vermag das Extravagante ihrer über die Stränge schlagenden Figur, aber auch deren Traurigkeit sowie die verzweifelt liebende Mutter mit Humor und Herz darzustellen. William Lebghil spielt den viel braveren Part des Sohnes mit Zurückhaltung und Charme und vermittelt dessen komplexere Gefühle ebenso überzeugend. So entpuppt sich „Das Leben meiner Mutter“ zwar als ein Lehrstück, aber als ein unterhaltsames und berührendes Porträt zweier sehr unterschiedlicher Familienangehöriger.
