VICTIM

100 min | Drama | FSK 12
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Filmkritik

Die alleinerziehende Ukrainerin Vita (Elizaveta Maximová) lebt in einer tschechischen Kleinstadt und hat zwei Wünsche: Sie möchte die Staatsbürgerschaft ihrer Wahlheimat erhalten und dort einen eigenen Friseursalon betreiben. Bald könnte der Traum vom gesellschaftlichen Aufstieg Wirklichkeit werden. Als Putzkraft in einem Wohnheim hat Vita fast genug Geld für ihren Salon gespart, und auch der Einbürgerungstest ist schon in ein paar Tagen. Rastlos und erschöpft hastet sie buchstäblich ihrem Ziel entgegen, die Handkamera dabei stets im Nacken.

Die Hoffnungslosigkeit dringt in „Victim“ aber schon aus den matten Farben der Bilder. Graue Plattenbauten bestimmen die Landschaft; draußen ist es konsequent bewölkt, drinnen brennt kaltes Neonlicht. Diese farblose Welt legt nahe, dass nach einem unvorhergesehenen Ereignis weniger Vitas Ehrgeiz zum Problem wird als ein Umfeld, das ihr keine Chance lässt. Als ihr Teenager-Sohn Igor (Gleb Kuchuk) im Treppenhaus von Unbekannten krankenhausreif geprügelt wird, verdächtigt man zunächst drei Roma-Jungen, die ebenfalls in dem als gefährlich verrufenen Wohnblock leben. Schnell verbreitet sich die Nachricht, und nicht wenige fühlen sich in ihren Vorurteilen bestätigt.

Ein harter Realismus

Das Regiedebüt von Michal Blasko erzählt von einer Frau, die alles richtig machen will und daran kläglich scheitert. Denn als sich herausstellt, dass Igor gelogen hat, weil ihm die banale Wahrheit peinlich ist, haben die Gerüchte längst eine Eigendynamik entwickelt. Die Polizei ermittelt, der Roma-Junge von nebenan wird festgenommen, Rechte organisieren einen Protestmarsch, und die Bürgermeisterin (Alena Mihulová) zerrt Vita vor die Presse, um mit ihrer vermeintlichen Opfergeschichte das eigene Image aufzupolieren.

Ästhetisch und weltanschaulich bewegt sich „Victim“ dabei in ähnlichen Gefilden wie das analytisch sezierende, von jeglicher Sentimentalität befreite Kino eines Michael Haneke. Blasko setzt, ähnlich wie seine jüngeren Geistesverwandten Cristian Mungiu und Michel Franco, auf einen harten Realismus, der die Kamera draufhält, wo andere wegschauen. Dabei bewegt sich diese Art Kino nicht selten auf einem schmalen Grat zwischen schonungsloser Entlarvung und einem Zynismus, der Unrecht anprangert, seine Figuren zugleich aber gerne leiden sieht.

„Victim“ ist in mehrfacher Hinsicht etwas schlichter und weniger ambivalent als die Filme seiner berühmten Kollegen. Er setzt auf eine kontinuierliche Eskalation, ohne Vita mögliche Auswege zu bieten. Schon als sie die Wahrheit erfährt, ist es für ein Geständnis bereits zu spät. Sich schuldig zu bekennen, könnte zu diesem Zeitpunkt auch bedeuten, sich den eigenen Aufstieg zu verbauen.

So verzweifelt wie sinnlos

Trotzdem wird die Protagonistin sichtlich von Gewissensbissen geplagt. Sie sucht die Nähe zur Mutter des verhafteten Jungen und möchte während der wütenden Demonstration deeskalieren. Der Widerstand, den sie leistet, bleibt jedoch ebenso verzweifelt wie sinnlos.

In „Victim“ ist der Aufstieg einer Migrantin nur auf dem Rücken einer anderen Minderheit möglich. Die Erwartungshaltung an Einwanderer, sich anzupassen und möglichst unauffällig zu verhalten, ebnet erst Vitas Weg ins Unglück. Besonders gegen Ende gibt es kaum noch Zwischentöne. Vitas Einbürgerung stellt der Film in einer absurden Zeremonie dem blumigen Pathos der tschechischen Nationalhymne gegenüber. Wer hier dazugehören will, muss erstmal seine Integrität aufgeben.

Trotz seines mitunter etwas bequemen Fatalismus muss man dem Film anrechnen, dass er mit seiner Welt, in der jeder nur auf sich schaut und andere für eigene Zwecke instrumentalisiert, durchaus eine beklemmende Atmosphäre entwickelt. Über weite Strecken lebt „Victim“ von Vitas moralischem Zwiespalt, ihrer Angst und Hilflosigkeit. Mit leicht gekrümmtem Rücken und starrem Blick ist sie in einer Grauzone gefangen, in der sie die Lüge ihres Sohnes weder berichtigen, noch die daraus resultierenden unheilvollen Konsequenzen aufhalten kann.

Erschienen auf filmdienst.deVICTIMVon: Michael Kienzl (27.1.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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