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Wilde Erdbeeren

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Meisterwerk von Ingmar Bergman um Leben, Gott und Tod
  • Veröffentlichung21.07.1961
  • Ingmar Bergman
  • Vereinigtes Königreich
  • 91 Minuten
  • DramaLovestory
  • 8/10 (86190) Stimmen

Leider gibt es keine Kinos.

Wer die Filme des Schweden Bergman zu ergründen sucht, muß einiges von ihrem Schöpfer wissen (siehe heutiger Leitartikel: "Über lngmar Bergman"). "Indem ich Filme mache", bekennt der Regisseur, "sage ich über mich selbst aus." Und ein andermal: "Filme drehen bedeutet auch ein Niedersteigen zu seinen eigenen Wurzeln in die Welt seiner Kindheit." Autobiographischen Elementen wird in besonderem Maße begegnen, wer in Bergmans Filmstudie "Wilde Erdbeeren" eindringt. In diesem, seinem achtzehnten und bisher reifsten Film, den er 1957, zwei Jahre also vor seiner "Jungfrauenquelle" drehte, erblickt sich der damals Neununddreißigjährige in der Gestalt eines Greises, der zu Geld und Ruhm gekommen ist und nun in eine Selbstprüfung eintritt. Sie fällt unbefriedigend aus. Unfähig zu lieben und zu verzeihen, hat der alte Mann, je weiter er sich von seiner Jugend entfernte, sein Leben von dem seiner Mitmenschen egoistisch abgeschnitten. Er fragt sich nach den Ursachen. Und als er dabei, zu seinen "Wurzeln niedersteigend", sein Ich beobachtet, Erkenntnisse gesammelt und Gericht gehalten hat, verlangt es ihn, anders zu sein, als er ist. Unbeholfen versucht er, sein kaltes Gefängnis zu durchbrechen und seiner Umgebung seine Sehnsucht nach Güte und Wärme zu signalisieren.

Diese Filmidee hat Bergman in der für ihn so bezeichnenden Landschaft zwischen Traum und Wirklichkeit zu einer tiefsinnigen Symboldichtung ausgestaltet. Die Handlung umfaßt einen Junisonntag. Isaak Borg, der achtundsiebzigjährige verwitwete Professor, soll heute im Dom zu Lund, Schwedens ältester romanischer Kirche, als doctor jubilaris geehrt werden. In der Frühe hat er einen Angsttraum. In einem menschenleeren Stadtteil sieht er sich großen zeigerlosen Uhren gegenüber und vor einem herabstürzenden Sarg, aus dem seine eigene Hand nach ihm greift. Der Traum mahnt an den nahen Tod, dessen Stunde zeitlos ist. Nachdenklich tritt Borg die Reise von Stockholm nach Lund im Auto an. Sie wird zu einer Reise durch sein Leben. Die Schwiegertochter, die ihn begleitet, wirft dem schweigend zuhörenden alten Herrn Gefühlskälte und Egoismus vor: "Hinter der sympathischen Maske bist du ein Steinklotz!" Sie machen Halt bei einem alten Sommerhaus, in dem Borg als Kind und Student seine Ferien zu verbringen pflegte. Über die vertraute Stelle mit den Walderdbeeren (ein Symbol jugendlicher Reinheit) geneigt, sieht er im Wachtraum seine zehn Geschwister und seine Cousine Sara, die ihn als junges Mädchen geliebt und dann doch seinen mitteilsameren Bruder geheiratet hat. So geht es fort: Alle Erlebnisse auf dieser Autofahrt sind Überleitungen zu weiteren Begegnungen Borgs mit sich selbst. Da taucht nochmals Sara auf, in der Gestalt eines Anhaltermädchens von heute, begleitet von zwei Studenten, deren einer die Existenz Gottes verteidigt, während der andere sie leugnet. Glaubt er, der alte Borg, noch an Gott? Wenig später steigt vorübergehend ein ebenso abstoßend streitsüchtiges wie schmerzhaft aneinandergefesseltes Ehepaar zu; sie "Hysterikerin", er "Katholik" (eine Gleichung des Films, die nicht beleidigende Absichten, sondern schwedische Ansichten verrät). Das Paar ruft dem Professor die Szene vor Augen, da seine unglückliche Frau sich im Wald einem anderen hingab, fast mit seiner eigenen Zustimmung. Ein Halbtraum führt ihn in das Examen seines Lebens, wobei er auf die Frage nach der ersten Pflicht ("Um Verzeihung zu bitten") keine Antwort weiß und dafür mit der Strafe der Einsamkeit belegt wird. Anschließend - wieder als reales Geschehen - der kurze, widerwillige Besuch bei seiner Mutter. Auch in ihr begegnet er sich: Sehr trocken, sehr kalt, sehr einsam lebt die fast Hundertjährige in ihrem großen Haus - ohne Zeitgefühl und gänzlich isoliert. Sie zeigt ihrem Sohn die zeigerlose Uhr des Großvaters, danach eine Kinderpuppe (bei Bergman ein Symbol der Abtreibung). Zuletzt, in Lund angelangt, muß Borg sich auch in seinem Sohn wiedererkennen, der Arzt ist wie er, Kälte ausströmt wie er und in gleicher seelischer Verhärtung wie er seiner Frau den Wunsch nach Kindern verweigert, weil er kein Leben weitergeben will... Borg hat begriffen, daß zwischen dem Traum am Morgen und all diesen Begegnungen ein geheimnisvoller Zusammenhang walten muß. Er fühlt sich verändert. Seine Haushälterin und sein Sohn sollen als erste spüren, daß er, soweit es ihm die Grenzen seines Naturells erlauben, von nun an ihr Mitmensch sein wird. In der Wohnung seines Sohnes schläft er am Abend dieses langen Tages, versöhnt mit sich und seiner Umwelt, ein. Seine Augen füllen sich mit glücklichen Bildern aus seiner Jugend.

Auch die optische Gestaltung ist unverkennbar Bergman. Die beredte, vielsagende Art seines Kamera- und Beleuchtungsstils gipfelt in den Traum- und Halbtraumsequenzen mit ihren überraschenden Bildkompositionen. In dem Eröffnungstraum hat man eine Konstruktion von Freud`schen Symbolen sehen wollen, die sich nur psychoanalytisch erklären ließen. Uns will eher scheinen, daß auch dabei die quellende Bildphantasie eines Regisseurs im Spiel ist, der bereit ist, zuzugeben, daß er "manches in seinen Filmen selbst nicht versteht". Originell die Veränderung, die Bergman den Rückblenden abgewinnt: Der achtundsiebzigjährige Professor erscheint unverjüngt als stummer Zuschauer seiner heranwachsenden Geschwister, die ihn nicht bemerken. Trotz solcher Bild- und Regiekünste fragt man sich allerdings, ob aus dem Film mehr als ein verblüffendes Zusammensetzspiel geworden wäre, füllte der (wenig später verstorbene) Schauspieler Victor Sjöström die Hauptrolle nicht mit seiner unvergleichlichen Alterskunde. Die eigentliche Geschichte spielt sich in seinem Gesicht ab. Nach den letzten Großaufnahmen für "Wilde Erdbeeren" notierte Bergman in sein Tagebuch: Sjöströms Gesicht, in dem er vorher mißtrauische Grausamkeit, Streitsucht des Alters und Selbstmitleid bemerkt hätte, sei nun im "Widerschein einer anderen Wirklichkeit" plötzlich mild gewesen: "Nie vorher oder nachher habe ich ein so edles und befreites Gesicht gesehen - und doch war es nicht mehr als ein Stück Schauspielkunst in einem schmutzigen Atelier".

Wenn die Filmliga den Film in ihre "Bestliste" aufgenommen hat, weil er eine Einladung an den Zuschauer darstelle, das eigene Woher und Wohin zu bedenken, so war sie sich klar darüber, daß er auf Grund seiner Eigentümlichkeiten nur einen Teil des Publikums erreichen kann. Viele werden ihn unverständlich finden. Diejenigen aber, denen er sich - vielleicht in abweichender Sinndeutung - mitzuteilen vermag, werden von ihm bewegt sein. Christlich ist dieser Film freilich nicht zu nennen. Wenn er von Gnade und Reue spricht, verwendet Bergman (der sich von der Frage nach Gott so glaubhaft beunruhigt fühlt, aber das "organisierte Christentum", wie er es kennenlernte, ablehnt) säkularisierte, nicht theologische Begriffe. Es ging ihm, wie stets, nur darum, Stimmungen in Filmbilder zu verwandeln und dabei "eine Art Wahrhaftigkeit zu erzeugen, die ich im gegenwärtigen Zeitpunkt als gültig empfinde". Bergman ist zweifellos ein Suchender. Man darf auf seine nächsten Filme gespannt sein.

Veröffentlicht auf filmdienst.deWilde ErdbeerenVon: KB. (12.8.2025)
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