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Filmkritik
Die Kamera schwenkt über alte Tapetenmuster und Stockflecken, bis das Bild auf einem menschlichen Schatten an der Wand stehenbleibt. Er gehört Munir (Georges Khabbaz), einem Schriftsteller Ende 40, der aus dem Nahen Osten stammt und auf der nordfriesischen Hallig Langeneß gestrandet ist. Von hier aus will Munir die Welt verlassen. Doch noch packt er die geladene Pistole aus seiner Reisetasche aus und wieder ein. Der Freitod ist leichter gedacht als getan, zumal unverhoffte Begegnungen – auch mit sich selbst – den fatalen Plan ins Wanken bringen. Das stürmische Wetter spielt in dem von Ameer Fakher Eldin geschriebenen und inszenierten Drama „Yunan“ überdies eine wichtige Rolle.
Im Bauch des Wals
In einer Traumsequenz stößt Munir auf den riesigen Leib eines gestrandeten Blauwals. Auf den Propheten Jona, der im Alten Testament von einem Wal verschluckt wird und dank göttlicher Gnade nach langer Verzweiflung wieder Hoffnung schöpft, verweist schon der Filmtitel „Yunan“; so lautet in der abrahamitischen Mythologie Jonas Name. Zugleich aber ist „Yunan“ das arabische Wort für „Grieche“ und damit ein Synonym für Fremdheit, Migration und Entwurzelung.
Diese Thematik prägt das gesamte „Homeland“-Projekt von Fakher Eldin, der 1991 in der Ukraine als Sohn syrischer Eltern geboren wurde und auf den Golanhöhen aufwuchs, die seit 1967 unter israelischer Besatzung stehen. „The Stranger“ (2021), sein kraftvolles Langfilmdebüt, spielte in diesem Gebiet. Dort aufzuwachsen fühle „sich sehr nach Exil an“, sagte der Regisseur in einem Interview. „Normalerweise verbinden wir Exil mit einer Bewegung, mit Flucht. In meinem Fall musste ich nicht fliehen – ich wurde in meiner eigenen Heimat entwurzelt.“ „The Stranger“ war der Auftakt einer geplanten Trilogie mit wechselnden Protagonisten, die mit „Yunan“ jetzt als Mittelteil fortgesetzt wird. Der finale Film ist in Vorbereitung.
Eindringlich, mit lethargischen Bewegungen und entrücktem Blick verkörpert der libanesische Schauspieler Georges Khabbaz den lebensmüden Mann. Anfangs ist sein Gesicht von einem Mundstück verdeckt: in der Kabine eines Pneumologen absolviert er einen Atemtest. Munir bekommt schwer Luft, aber der Arzt kann keine körperlichen Gründe entdecken und verordnet Ruhe. In seiner Hamburger Wohnung bleibt Munirs Schreibmaschine unberührt; dafür nimmt die Kamera eine halbleere Wodkaflasche in den Blick. Im Herbstdunkel rattern draußen die S-Bahnen hin und her. Drinnen findet ein Beischlafversuch statt, den Munir abbricht. Er ist total blockiert, nicht nur als Schriftsteller.
Schön wie der Mond
Bei einem Telefonat in die Heimat – aus welchem Land er kommt, erfährt man nicht – bittet er seine an Demenz erkrankte Mutter, ihm seine Lieblingsgeschichte zu erzählen. Munir kennt die Legende vom taubstummen Hirten (Ali Suliman) und seiner schönen Frau (Sibel Kekilli), die in einer Wüstengegend leben, seit seiner Kindheit. „Er hatte keine Nase, keinen Mund, keine Ohren. Er hatte nichts außer seiner Schafherde. Er konnte nicht sprechen. Seine Frau aber: schön wie der Mond.“ Die ersten Sätze dieser Geschichte werden beharrlich wiederholt, das Märchen in bronzefarbenen Szenen visualisiert und in die Realhandlung eingeflochten, wobei Munir selbst bald als Besucher in den fiktionalen Raum der mütterlichen Erzählung eintritt. In diesen Traumszenen findet allerdings keine Entwicklung statt, ihr Charakter ist statisch. Dafür werden die Szenen Mal für Mal länger; final kommen die Hauptfigur, seine Mutter und das Hirtenpaar in einer zehnminütigen Plansequenz zusammen.
Das Legenden-Motiv ist eine Schwachstelle des Films, weil es gebetsmühlenhaft wiederholt und damit überstrapaziert wird. Munirs innere Erstarrung, die im Beharren auf Kindheitserinnerungen auch Regressionen beinhaltet, wird ohnehin deutlich. Die Szenen auf Langeneß sind hingegen hervorragend gelungen, gerade weil Munirs Verlorenheit und der Ausweg aus seinem existenziellen Tief so ungezwungen-impressionistisch erzählt wird. Denn Munir findet Unterkunft bei der älteren, ihn zunächst mürrisch zurechtweisenden Pensionswirtin Valeska (Hanna Schygulla), deren trockene, bisweilen schelmische Art den Fremden irritiert. Witzig ist die Szene, in der Valeska den vom Regen durchnässten Munir dazu auffordert, sich seiner Kleider zu entledigen: „Sachen aus! Nässe ist das Schlimmste!“
Mit friesisch-herbem Zuschnitt
Just in dem Moment, als der Fremde mit nacktem Oberkörper vor dem Kamin sitzt, platzt Valeskas Sohn Karl (Tom Wlaschiha) herein. Munirs Anspannung löst sich mit einem befreienden Lachkrampf – und die Wirtin kichert mit. Schygulla und Wlaschiha sind großartig in ihren Rollen friesisch-herben Zuschnitts. Die lebenskluge Valeska wird für Munir und das Publikum zu einer Art Fremdenführerin, die Erklärungen für das sehr spezielle Leben auf der Hallig abgibt und von den Sturmfluten erzählt, derer sie sich bis zurück ins Jahr 1962 erinnert. Außerdem hält die Wirtin knappe, aber wirksame Ratschläge für den seelisch ramponierten Munir bereit. Zum Atmen, so ihr wertvoller Hinweis, braucht man gar nicht so viel Luft.
Zur dritten Hauptfigur avanciert Karl, der erst zur Mitte des Films auftaucht und bei dem sich eine wachsende Sympathie und eine bleibende Reserviertheit gegenüber Munir die Waage halten. Anders als der in Depression gefangene Munir ist Karl eine auffallend aktive Figur, die sich um die Wirtschaft und die Kühe kümmert und später Sandsäcke füllt, um die Folgen einer Sturmflut zu minimieren.
Fakher Elgin und sein Team hatten das Glück, dass ein schweres Unwetter zur Überflutung der Hallig führte. So findet der innere Sturm der Hauptfigur eine bildstarke äußere Entsprechung, ohne dass die Flut Munir aus seiner Lethargie reißen würde. Kameramann Ronald Plante nutzt die Wildheit der Elemente – die schwere See, den wütenden Himmel, das vom Wind zerrissene Schilf – für magische Bilder in metallischen Blau-, Blassgrün- und Grautönen. Die bei der Sturmflut aus dem Wasser ragenden Warften mit den Häusern lassen ein wenig an die im Ozean von Andrej Tarkowskis elegischer Stanislaw-Lem-Verfilmung „Solaris“ schwimmenden Erinnerungslandschaften denken. Obwohl das Wattenmeer nicht Munirs Heimat ist und auch nie werden wird, übertrumpft das Nordseemotiv die arabischen Hirtenszenen.
Vom Glück des Augenblicks
Der Epilog am Hamburger Hafen entfaltet dann schließlich – nicht zuletzt dank der bewegenden Musik von Suad Bushnaq – eine große, durchaus ambivalente Kraft. Der an seinen Wohnort zurückgekehrte Dichter kann wieder schreiben, obwohl er seine Krise nicht überwunden hat. Aus dem Off wird ein poetischer, offenbar von Munir verfasster Text gesprochen, der vom Glück des Augenblicks handelt – und von der Akzeptanz der Endlichkeit. „Du hast nie etwas besessen. Keinen Mund, keine Augen, um das Licht zu sehen. Als hätte es dich nie gegeben. Du wirst vergessen werden.“ Wie die Wolken über den stürmischen Nordseehimmel rasen, taumelt das Leben seinem Ende zu. Diese Erkenntnis kann seltsamerweise tröstend sein. „Yunan“ macht diese mögliche Perspektive auf die menschliche Existenz begreiflich.


